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 LinkedIn und seine sonderbaren Blüten.
 
Stories 44, 07.02.2024
Inspiration

LinkedIn und seine sonderbaren Blüten.

Immer mehr macht mich die Business-Plattform LinkedIn ratlos. Manchmal sogar fassungslos. Das Level an Narzissmus und Nonsens lässt mich zweifeln – einerseits an der Digitalkompetenz der Menschen, andererseits am nötigen Mass an Selbstreflexion. Mehr Relevanz und mehr Demut bitte.

Ich scrolle wieder einmal durch meinen LinkedIn-Feed. Und erneut staune ich mit wachsendem Entsetzen. Ich gebe es zu: Ein Heavy-User des Business-Netzwerks war ich nie, aber ich schätze es trotzdem seit Anbeginn. Es verbindet mich mit interessanten Menschen aus meiner Berufswelt und liefert Inspiration. Das sollte es zumindest. Leider ist mittlerweile das Gegenteil der Fall. Ich könnte diese grotesk anmutende Selbstbeweihräucherung einfach ignorieren. Aber ich brauche mal ein Ventil.

Die 5 nervigsten LinkedIn-Charaktere

 

1. Coaching-Christof erklärt mir im perfekt gegliederten, mit unzähligen Business-Plattitüden versehenen Posting, wie ich mein Geschäft in nur zwei Monaten zehnfach skalieren kann. Klar, du hast vor einem Jahr den Master an der HSG gemacht und daneben noch zwölf Online-Shops aufgebaut. Deshalb weisst du jetzt alles und bietest mir ein Coaching mit Erfolgsgarantie an. Aber deine Floskeln wirken nicht kompetent genug, zudem verstehst du mein Business nicht. Denn es folgt seinen eigenen Regeln. Und ein Diplom allein reicht noch nicht, lieber Christof.

2. Copywriter-Claudia verdient mindestens 20’000 Franken monatlich, indem sie als Ghostwriterin das LinkedIn-Profil von anderen übernimmt (auch dasjenige von Coaching-Christof?). «Arbeiten» kann sie von Bali aus – drei Stunden am Tag reichen, um das Portemonnaie prall zu füllen. Neben dem Verfassen von «Content, der gesehen wird» hat sie genug Zeit für Yoga und Chai-Latte am Strand. Sie schreibt das in einem uninspiriert und austauschbar formulierten Text voller Grammatikfehler. Nicht gerade gutes Personal Branding, liebe Claudia.

3. Und da wären wir schon bei Personal-Branding-Peter: Er ist überzeugt vom Ansatz, sich selbst als Marke zu positionieren. Das tut er mit der Kadenz eines Kolibri-Flügelschlags. Dabei hält er nur sein Antlitz in die Kamera – lässig auf der Firmen-Couch zusammen mit dem Kunden (im Hintergrund) oder im Seychellen-Bungalow. Auf Inhalte warte ich vergebens, es geht ja schliesslich um «Personal». Ich habe nichts gegen Personal Branding, lieber Peter. Aber baue deine Marke auf Wissen auf, nicht auf deinem Gesicht. Die Zeit der Supermodels ist vorbei.

4. Diplom-Daniela hat ebenfalls einen Platz in der Aufzählung verdient. Sie hält mir jedes Zeugnis und Zertifikat vor die Nase. Natürlich wie Personal-Branding-Peter immer mit ihrem lächelnden Gesicht. Schliesslich hat sie für das Papier einige Tausender hingeblättert, das will jetzt vermarktet sein. Gelernt in ihrem 14. CAS.

5. Den Abschluss macht Superstar-Saskia. Sie hat mit 15 die Matura und mit 18 das Studium abgeschlossen, bis 20 doktoriert, daneben zwei Firmen gegründet und ebenso viele Kinder gezeugt. «You have to live your dream», sagt sie. «Wenn du an dich glaubst, kannst du alles erreichen.» Ja, Saskia, man soll an sich glauben. Ganz wichtig. Aber du machst es den anderen jungen Menschen da draussen nicht gerade leicht. Denn nicht alle starten mit den gleichen Voraussetzungen wie du. «Think about it, genius!» Denn du förderst die Überforderung von Burnout-Bianca. Letztere schreibt dann in ein paar Monaten auf LinkedIn über ihr Leiden.

Sie alle wissen sehr viel, haben bereits für vier Leben Erfahrungen und Knowhow angesammelt. Fast noch erstaunlicher aber finde ich die vielen wohlwollenden Kommentare unter den inhaltsleeren Postings. Man will ja nicht kritisch sein auf der Business-Plattform, der Chef könnte mitlesen. Ja nicht anecken, alles glattpoliert lassen. Personal Branding eben. 

Dabei hat LinkedIn so viel Potenzial

 

Nun werde ich wieder meinem Naturell entsprechend positiv konstruktiv: Lasst uns austauschen, einander Fragen stellen und Interesse zeigen. Oder auch einmal einen Beitrag einer Drittperson teilen, die wirklich etwas zu sagen hat. Dazulernen und einander inspirieren, darum geht es doch. Es gibt nichts einzuwenden gegen das Kommunizieren eines Erfolgs, das hat ebenso Platz. Aber mit der nötigen Portion Demut und Selbstreflexion. Die scheint in sozialen Medien immer weniger vorhanden zu sein.

Was ich hier jedoch auf keinen Fall ungeschrieben lassen will: Neben den fünf aufgeführten Charakteren gibt es in meinem Feed noch ganz viele spannende Menschen, die Interessantes, Unterhaltsames, Wissenswertes teilen und darüber diskutieren. Bleibt da, bitte!

Was denkst du? Habe ich einen Nerv getroffen oder gehe ich mit Christof, Daniela und Saskia zu hart ins Gericht?