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Blume
 
Stories 10, 23.12.2021
Inspiration

Wie Worte riechen. Wie Düfte die Sprache bereichern.

Dunkelrot. Allein das Wort löst eine Bilderflut im Gehirn aus. Wir sehen schwere Samtvorhänge, leuchtende Früchte im Blättergrün des Kirschbaums, das Glas Syrah zum Essen in diesem tollen Restaurant oder den leicht staubigen Lack unseres ersten Autos. Lesen wir «knarzen», so hören wir das Geräusch einer alten Treppenstufe in unserem Elternhaus oder den herrlich einschläfernden Klang des an den Tauen zerrenden Holzbootes im nächtlichen Hafen.

Geruchsgedächtnis

Warum fehlen uns die Worte beim Riechen? Immerhin stehen die lebendigen Erinnerungen, die ein Duft in uns auslöst, denen beim Wiederhören mit einem fast vergessenen Lieblingslied oder einer lange nicht mehr gehörten vertrauten Stimme in nichts nach. Aber es gibt kein einzelnes Wort für den Geruch einer sonnenwarmen Motorradjacke oder der Kommode in Opas Arbeitszimmer. Stattdessen müssen wir vergleichen, um ein Bouquet zu beschreiben. Mit Holz, Harz, Wachs, Blüten, Jod und etwa 10'000 weiteren Duftnoten, die ein durchschnittlich riechbegabter Mensch auseinanderhalten kann.

 

Erinnerungslücken

Womit auch gleich das Problem beschrieben wäre: Zwar können wir diese grosse Zahl von Duftkomponenten unterscheiden. Uns aktiv an sie zu erinnern, fällt dagegen enorm schwer. Wer schon einmal bei einer Weinprobe oder der Suche nach einem neuen Parfum markante Geruchsunterschiede benennen sollte, kennt das Gefühl: Wir riechen durchaus einzelne Teile eines Bouquets heraus. Beim Benennen stossen wir an unsere Grenzen. Der Name eines Duftbestandteils liegt uns förmlich auf der Zunge, aber er fällt uns nicht ein. Und zwar nicht, weil wir geröstete Mandeln mit der Nase nicht von Ananas unterscheiden können. Sondern weil es in unserer Sprache (und den allermeisten anderen) nicht das eine Wort gibt, das einen Geruch beschreibt. Nicht wie Blau, Rot oder Gelb für visuelle Eindrücke aus unserer Umwelt, was wir schon als Kind erlernten.

 

Verlorene Wörter

Einige wenige Sprachen von Bewohnern tropischer Regenwälder nutzen präzise Worte für bestimmte Gerüche. Logisch, weil sie dort überlebenswichtig sind, um beispielsweise Essbares von Giftigem zu unterscheiden. Die Wissenschaft nimmt an, dass unsere Sprache solche Worte ursprünglich ebenfalls besass. Sie wurden weniger benutzt, je mehr wir uns vom Jagen und Sammeln entfernten. Schliesslich gingen sie vergessen.
 
Wie leicht es ansonsten wäre: Mit dem leider verlorenen Wort ein charakteristisches Geruchsprofi merken. Ähnlich dem «Grasgrün» für ein Farbspektrum oder dem «Wecker» für ein typisches Geräusch. Einmal abgespeichert, liesse sich etwas schon mal Gerochenes dadurch spontan in Erinnerung rufen. Das ist viel schwieriger ohne eindeutige Geruchsbegriffe, die wir erlernen und durch häufige Verwendung verinnerlichen. Es gibt keinen Zweifel, wenn wir Erdbeeren gleichzeitig sehen und riechen. Werden uns die Augen verdeckt, ist es ungleich schwieriger, den Duft zweifelsfrei zu benennen. Warum ist das so?

 

Chemiestunde

Reife Erdbeeren haben eine herausstechende Duftkomponente mit dem eher schwierig zu merkenden Namen 4-Hydroxy-2,5-dimethyl-3(2H)-furanon, kurz HDMF. Leider kommen noch etwa ein Dutzend weiterer Aromen hinzu wie beispielsweise Buttersäureethylester, der ebenfalls charakteristisch für gewisse Ananassorten ist. Und um es richtig kompliziert zu machen, trägt dieser Bestandteil auch zum Geruch von Äpfeln, Bananen, Pfirsichen und Orangen bei. Während es also reicht, sich zu merken, dass eine Farbe mit einer bestimmten Wellenlänge als «sonnengelb» bezeichnet wird, ist ein Abspeichern von Düften ungleich komplexer. Denn die bestehen in der Regel aus vielen unterschiedlichen Komponenten, die wiederum anders kombiniert einen unterschiedlichen Duft ergeben. Zehn Jahre etwa dauert es daher für Menschen mit einer entsprechenden Begabung (im Französischen einfach «nez» genannt, also «Nase»), sich durch stetiges Wiederholen bis zu 5000 Aromen zu merken.

 

Duftgeschichten

Wobei das Einprägen nicht wie mit Vokabeln funktioniert. Wir merken uns Gerüche nicht isoliert, sondern mit Situationen verknüpft. Das Gehirn bewertet und speichert den Geruch ab, z.B. in gefährlich/ungefährlich oder angenehm/unangenehm. Dabei wird ein Areal aktiviert, das auch für Emotionen und Erinnerungen zuständig ist. Plötzlich stehen wir beim Geruch von Mirabellenkompott sechsjährig in Omas Küche. Deswegen sollten wir mit offenen Augen durchs Leben gehen und unbedingt einsaugen, was uns bei den mehr als 20'000 Atemzügen täglich an Gerüchen begegnet. So lernen wir den Duft einzelner Etappen auf unseren Wegen kennen und verbinden ihn mit Details wie Pflanzen, Jahreszeiten, Orten, Materialien zu beinahe greifbaren Schnappschüssen. Entdecken wir einen Geruch an einem anderen Ort wieder, kommt das passende Bild ganz selbstverständlich dazu. Und statt «irgendwie süsslich» duftet es vom Marktstand plötzlich unverkennbar nach reifen Pfirsichen.

 

Unser Tipp

Ein Dufttagebuch führen: Such dir einen Duft aus und fasse ihn in Worte. Zum Beispiel ein frisches Gewürz, eine Blume auf dem Balkon, Regentropfen. Am besten morgens, wenn der Geruchssinn noch ausgeruht ist, Das schärft ihn und macht dich nachweislich glücklich.